Horizontale & Vertikale – mein Weg mit der Meditation

Unzufriedenheit

Als Jugendlicher suchte ich nach einer Tiefe, in der Welt, in Allem, in anderen, in mir. Mir kam die Gesellschaft so oberflächlich vor, jedenfalls die meisten Menschen, die ich um mich herum fand. Geburt, Arbeit, Konsum, Arbeit, Konsum, Tod – das konnte doch nicht alles sein!? Es erinnerte mich an diesen horizontalen Zeitstrahl, den man öfter sah: Am Anfang ein kurzer senkrechter Strich und dann ein Pfeil, der immer nach rechts, in die Zukunft zeigt. Immer sah man die Zukunft als besser an, als die Gegenwart. Dort kam sicher bald die Fülle des Lebens, seine ganze Tiefe! Wenn erstmal dies und das, dann fühle ich mich, bin ich, habe ich ... Die Gegenwart, die Realität, fühlte sich dagegen eher flach und langweilig an. Ich verweigerte viel: Konsum, Kriegsdienst, das für mich von den Eltern vorgesehene Studium, das Erbe des Onkels ... 

Suche

Nach dem Abi fuhr ich in Klöster, arbeitete auf einem Biohof, machte Kurse, studierte 4 Jahre evangelische Theologie – aber fand nicht die für mich wirklich befriedigenden Antworten. Ich lernte auch die Zen-Meditation kennen, jedenfalls was ich anhand der mir damals bekannten Quellen dafür hielt. Aber es erschien mir auch wie ein langer Weg jahrzehntelangen Sitzens, vielleicht mit Rücken- und Knieschmerzen, an dessen Ende mit der Erleuchtung gewinkt wird –  also letztendlich eine Variation des horizontalen Zeitstrahls. Das Winken mit der Fülle und Tiefe in der Zukunft.
   Ich wurde Physiotherapeut, in meinem Verständnis so etwas wie ein Körper-Natur-Therapeut, ehrlich gesagt, vor allem, um mich erst mal selbst wieder zu erholen von den vielen Dingen, mit denen ich meinen Geist gefüllt hatte. Nun war ich erfüllt von Bewegung, Massage, Atemtherapie, Entspannungstherapie, kalten und warmen Wasseranwendungen – ich fand eine gewisse Lebensintensität. Ich arbeitete dann in einer Physiotherapie-Praxis, wurde später Physiotherapieschulleiter, schließlich Chefredakteur einer Physiotherapie-Fachzeitschrift ... ich wurde Vater, heiratete, baute ein Haus, pflanzte Bäume ... 

Krise

... und erkrankte an Krebs. Ich war verzweifelt. War dies nun das Ende dieses horizontalen Zeitstrahls? Wurde der Pfeil am rechten Ende, der mich vorantrieb, jetzt zu einem kurzen, senkrechten, schwarzen Strich, den ich nur allzu bald erreichte? 
   In der Klinik ging ich zu einem Psychotherapeuten und Seelsorger. Er hörte sich meine Sorgen und mein Leiden an – und sagte dann: Sie brauchen Achtsamkeit! Er empfahl mir ein Buch von Thich Nath Hanh. Ich las es direkt noch in der Klinik durch: Aha, es gibt nicht nur diese horizontale Linie, es gibt auch eine vertikale Linie, die genau jetzt, genau hier in die Tiefe und in die Fülle führt. Eine Lehre, ohne etwas glauben, meinen oder vertreten zu müssen, sondern auf meiner eigenen Erfahrung aufbauend, mit meiner Erfahrung nachzuvollziehen, hier und jetzt, als lange Vertikale. Ich verstand auch, dass ich selbst viel mehr bin, als dieses kleine Ich, das sich auf diesem horizontalen Zeitstrahl irgendwie vorankämpfte. Ich erfuhr in den Achtsamkeitsübungen, dass ich in meinem tiefsten Wesensgrund mit allem und allen verbunden bin. Und in der Stille eröffnete sich mir eine unendliche Fülle, Farbigkeit, Intensität und Liebe. Ich spürte, dass egal was auf dem horizontalen Weg jetzt kommen mag: Ich habe die Vertikale gefunden und sie ist jederzeit verfügbar – immer jetzt.

Nicht-Zwei

Aber es gab immer noch eine gewisse Geteiltheit, Trennung, Dualismus: hier die Meditation, dort der Alltag; hier die Vertikale, dort die Horizontale; hier die Liebe, dort die Abneigung; hier der Geist, dort die Materie; mich hier drinnen im Inneren von Haut oder Schädel und dort draußen die anderen und die Welt; hier Geist und dort Materie. 
   Meine heutige Lebenshaltung, meine Praxis kann man mit dem Verweilen in einem nondualen Bewusstsein beschreiben ("nondual awareness"). Es gibt eine Reihe von einfachen Übungen, Selbst-Untersuchungen, mit denen man sehr tiefe nonduale Erfahrungen machen kann und die ich mit Freude teile. Am besten wird dieser dritte Schritt, der die beiden Linien vereint, vielleicht mit einer Art Gedicht ausgedrückt, das von Rupert Spira inspiriert ist: 

 

In Unwissenheit 

bin ich dies oder das.


Im Verstehen

bin ich Klarheit, offene Weite.


In der Liebe

bin ich mit allem verbunden, bin ich eins.

 

 

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